Leseprobe aus "Vom Zauber der Kindheit"


Eine Kindheit im Schloss

Dann war da noch ein anderes Stubenmädchen neben Lottel. Das war Marie. Sie war eine wirklich treue Seele, immer pünktlich und fleißig, und wir Kinder liebten sie sehr. Zärtlich nannten wir sie "Maruschka". Eines Morgens erschien sie nicht zum Dienst. Das war ganz ungewöhnlich. So etwas war bei ihr noch nie vorgekommen. In tiefer Besorgnis suchte meine Mutter ihr Zimmer auf. Sie fand die Gesuchte in ihrem Bett, sich vor Schmerz windend. Alles war voll Blut. Maruschka hatte eine Fehlgeburt erlitten. Dass so etwas in unserem Hause passiert war, war eine schlimme Sache, nicht nur für Maruschka. Schließlich hatte man hohe Wertvorstellungen. Da aus dem Mädchen kein Wort über den "Täter" herauszukriegen war, ließ Mutter verkünden, derjenige solle sich melden. Sie wollte den Urheber dieses Malheurs zur Verantwortung ziehen.
Da sich innerhalb einer festgesetzten Frist niemand meldete, zitierte sie nacheinander den Diener, den Chauffeur und den Hauslehrer zu sich. Mit Unschuldsmiene beteuerten alle drei, sie seien nicht der Vater dieses "Unglücks". Also konnten sie wieder an ihre Arbeit gehen. Maruschka verließ uns wenig später freiwillig.
Nach vielen Jahren suchte meine Mutter erneut ein Stubenmädchen. Es meldete sich wieder Maruschka. Mit Freuden wurde sie wieder eingestellt. Über die seinerzeitige Geschichte schwieg sie sich jedoch weiterhin aus. Sie blieb bei uns, bis sie einen Bauernsohn aus dem Dorf heiratete. Aber auch als Ehefrau half sie noch oft auf dem Gut aus. Bei meiner Hochzeit ließ sie es sich nicht nehmen, mir meinen kostbaren Brüsseler Spitzenschleier aufzustecken.

Erst im Jahre 1989, als wir Maruschka bei Ludwigslust, wo sie nach dem Krieg gelandet war, besuchten -- sie war mittlerweile sechsundachtzig Jahre alt -- gestand sie uns, dass der Vater ihrer Fehlgeburt unser Hauslehrer gewesen sei.