Leseprobe aus "Sehnsucht nach Liebe"


Das Gebiss im Nachttisch

Bevor ich mich von diesem freundlichen Herrn verabschiedete, dessen finanzielle Situation ich anscheinend total falsch eingeschätzt hatte, wollte ich wieder etwas gut machen. Das tat ich, indem ich ihm einige gutgemeinte Ratschläge gab: "Wenn Sie demnächst die Adresse einer Frau bekommen, sollten Sie ein bisschen was für Ihr Äußeres tun. Wissen Sie, Frauen stehen auf so was. Sie sind ja ein ganz patenter Kerl, aber mit den Bartstoppeln im Gesicht erkennt das keine. Und Ihre Haare", hier schluckte ich, weil es mir peinlich war, das auszusprechen, "die könnten ein Waschen und einen Schnitt auch wieder vertragen."
Er fasste sich an den Kopf und fragte: "Meinen Sie?"
"Ja, schauen Sie nur mal in den Spiegel. Dann werden Sie es selbst sehen."
Suchend schaute ich mich um. Kein Wunder, dass er so aussah. Es war nirgends ein Spiegel zu entdecken. Meinen Blick bemerkend, sagte er: "Im Bad hängt ein Spiegel."
Er geleitete mich dort hin. Aber - o Schreck - wie sah das hier aus! Die Fliesen zum Teil abgefallen, alle Rohre verrostet, die Objekte total verdreckt.
Einen richtigen Badezimmerspiegel suchte ich indes vergebens. Über dem Waschbecken hing ein kleiner trüber Standspiegel. In den vermochte ich nur mit Mühe zu blicken, indem ich mich auf Zehenspitzen stellte. Ich hängte ihn ab, wischte mit einem Tempotuch darüber und hielt ihn Fritz so vor, dass er sich darin sehen konnte.
"Und - was sehen Sie?"
"Sie haben Recht", antwortete er: "Ich muss was für mich tun."
Mutig geworden, fügte ich hinzu: "Bevor Sie zu Ihrem Rendezvous gehen, sollten Sie ein Vollbad nehmen. Danach ziehen Sie frische Wäsche an, ein ordentliches Hemd und eine Krawatte. Und einen Ihrer Anzüge natürlich. Dann machen Sie was her. Sie sind doch noch ein ansehnliches Mannsbild. Das müssen Sie doch nicht verbergen."
Er lächelte verlegen. Das machte mir erneut bewusst, wie unvorteilhaft sein Mund aussah. Ich gab mir einen Ruck, um auch dieses heikle Thema anzusprechen: "Die Zahnlücken im Unterkiefer könnte man glatt übersehen. Aber für den Oberkiefer sollten Sie sich umgehend ein Gebiss machen lassen. Dann würden Sie um Jahre jünger aussehen."
Er lachte verschmitzt, nahm mich vertraulich an die Hand und zog mich hinter sich her. Wir landeten wieder im Schlafzimmer. Er zog die Nachttischschublade auf, kramte darin herum und zog etwas heraus. Stolz hielt er dieses Etwas in die Höhe. Es war nichts anderes als ein Gebiss, das mich förmlich anstrahlte.
"Und warum setzen Sie das nicht ein?", wollte ich verwundert wissen.
"Es drückt ein bisschen", gestand er.
"Das kann Ihnen der Zahnarzt doch richten. Außerdem habe ich mir sagen lassen, dass man ein Gebiss fleißig tragen muss, damit es sich richtig anpasst."
Probehalber setzte er es ein.
"Was habe ich gesagt? Richtig flott sehen Sie damit aus. Schauen Sie nur mal in den Spiegel."
Wir kehrten zurück ins Badezimmer.
"Tatsächlich", staunte er. "Wissen Sie, ich habe es seit Jahren nicht mehr angehabt."
Er bedankte sich herzlich, wobei er mir versicherte, er werde bei seinem Rendezvous alle meine Ratschläge befolgen.