Leseprobe aus "Die tugendsame Richterin"


Am Samstagmorgen - die Sonne strahlte warm vom blauen Himmel - herrschte rege Geschäftigkeit im Hause Waldmann. Die Schneiderin legte Mali den Brautstaat an und heftete mit zierlichen Stichen Myrthen an das Kleid. Auguste und Charlotte huschten herum, gaben Grete und Friedrich Anweisungen und ordneten hier und dort.
In der oberen Wohnung herrschte das gleiche hektische Treiben. Wilhelm war mit seiner Familie hier einquartiert worden und alle machten sich schön für die Hochzeit. Die anderen Verwandten, Freunde und Nachbarn hatte man gleich zur Kirche bestellt. Das Wohnhaus wäre sonst aus allen Nähten geplatzt.
Der Bräutigam und seine Freunde würden die Braut ebenfalls an der Kirche erwarten.

Gegen halbelf setzte sich der Brautzug in Bewegung. Am Straßenrand blieben die Leute stehen, um sich die festlich gekleideten Menschen anzuschauen. Auch auf dem Platz vor der Kirche hatten sich viele Schaulustige eingefunden. So manch bewundernder Frauenblick war auf den stattlichen Offizier in der schneidigen Uniform gerichtet. Der aber hatte nur Augen für seine Braut. Strahlend ging er auf sie zu, um sie aus den Händen ihres Vaters am Kirchenportal in Empfang zu nehmen.
Unter Orgelbrausen zog man feierlich ein. Wilhelms Töchter, Katharina und Renate, streuten aus ihren kleinen Umhängekörbchen eifrig Blumen auf den Weg des Brautpaares. Auf den mit rotem Samt gepolsterten Kniebänken ließen Mali und Arno sich nieder, während sich die beiden Trauzeugen rechts und links von ihnen aufstellten. Die Familie nahm in den reservierten vorderen Bänken Platz. In die Bänke dahinter begaben sich Freunde, Verwandte und zahlreiche Schaulustige.
Der Pfarrer eröffnete das Brautamt mit einer kurzen, zu Herzen gehenden Ansprache. Es folgten einige Gebete und Gesänge. Dann schritt er zur eigentlichen Trauung. Während Arno alle drei Fragen mit einem kräftigen Ja beantwortete, hörte Mali gar nicht richtig zu. Erst als sich der Priester an sie wandte, wachte sie aus ihrer Lethargie auf.
"Viktoria Luise Amalie, bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, um mit diesem deinem Bräutigam, Arno Heinrich Braun, die Ehe einzugehen? So antwortete mit Ja."
Bin ich frei und ungezwungen hierher gekommen?, schoss es ihr durch den Kopf. Eigentlich schon. Gezwungen hat mich niemand.
"Ja", antwortete sie zaghaft.
"Bist du gewillt, die Kinder, die Gott euch schenken wird, anzunehmen und sie zu erziehen, wie es Pflicht einer katholischen Mutter ist? So antworte mit Ja."
Mir wird ja nichts anderes übrigbleiben, dachte sie und hauchte ihr zweites Ja.
"Bist du bereit, diesen deinen Bräutigam zu lieben und ihm zu dienen, bis dass der Tod euch scheidet? So antworte mit Ja."
"Nein", sagte sie leise aber bestimmt.
"Wie bitte?", fragte der Priester irritiert. Er glaubte, sich verhört zu haben.
Da wiederholte sie laut und deutlich - so dass weder dem Priester, noch den Trauzeugen, noch den in der Kirche versammelten ein Zweifel bleiben konnte - : "Nein!"
Der Bräutigam riss den Kopf zu ihr herum und öffnete den Mund. Aber noch ehe er etwas sagen konnte, sprang die Braut auf, raffte ihre Röcke hoch und rannte aus der Kirche.
Wie gelähmt verharrten alle auf ihren Plätzen. Nur Margarethe ergriff geistesgegenwärtig ihre Handtasche und eilte ihrer Schwester nach.
"Geht es dir nicht gut?", fragte sie teilnahmsvoll, als sie Mali endlich vor der Kirchtüre eingeholt hatte.
"Doch, doch. Mir ist es lange nicht mehr so gut gegangen. Jetzt weiß ich endlich, was ich will." Dabei lachte sie hell auf.