Leseprobe aus "Die entflohene Nonne"


Diese Erkenntnisse wühlten ihr ganzes Innenleben auf. Sie war wie in einem Rausch. Für sie existierte kein Gefängnis mehr und kein Kloster. Es gab nur noch sie beide: eine junge Frau und einen jungen Mann. Sie waren nur noch zwei Menschen, denen das Geschenk der Liebe zuteil geworden war. Warum sollte sie sich gegen dieses Geschenk wehren?
Schließlich gestand sie ihm freimütig: " Mir ist es auch so ergangen. Vom ersten Augenblick an habe ich Sie geliebt. Ich wollte es mir selbst nicht eingestehen. "
"Ist das wirklich wahr? ", fragte er leuchtenden Auges und zog sie erneut in die Arme.

"Nachdem wir uns bereits den Verlobungskuss gegeben haben, könnten wir uns auch duzen. Sag mal, Benedikta ist doch nicht ein richtiger Name?"
"Nein, in echt heiße ich Klara."
"Klara!", wiederholte er bedächtig. "Das ist mir auch lieber. Benedikta klingt mir viel zu feierlich. Dass ich Gottfried heiße, weißt du sicher schon?"
"Und ob! Deine Mutter hat den Namen ja oft genug erwähnt."
Als er sie wieder in die Arme schließen wollte, nahm er "Anstoß" an ihrer Haube.
"Sag mal, das Zeug ist doch recht hinderlich - kann man das nicht abnehmen?"
"Man kann", sagte sich schelmisch. "Ich brauche es ja nicht mehr."
Mit einigen Handgriffen nahm sie Schleier, Haube und Kopfhülle ab und legte die Sachen auf den Terrassentisch. Wundervolles kastanienbraunes Haar quoll heraus. Gottfried starrte sie mit offenem Mund an: "So siehst du also in echt aus! Jetzt weiß ich gar nicht, welche von euch beiden mir besser gefällt, die Klara oder die Benedikta."
"Ich weiß jedenfalls, welcher von euch beiden mir besser gefällt. Der hübsche junge Mann, der heute Morgen aus dem Gefängnistor trat, sieht um vieles besser aus, als der Knacki Schmitz."
Da lachten beide zum erstenmal herzhaft miteinander. Erneut zog er sie in seiner Arme, drückte sie fest an sich und sagte leise: "Oh Klara! Dass ich so ein Mädchen wie dich gefunden habe! Du bist ein Geschenk des Himmels."
"Das könnte man sogar wörtlich nehmen," lachte Klara. "Denn eigentlich war ich als Braut Christi vorgesehen. Aber ich denke, er hat Bräute genug, die ihm freiwillig angehören. Also wird er gerne auf eine verzichten, die man ihm zwangsweise zuführen wollte."
"So sehe ich das auch. Drum hat er dich zu mir in den Knast geschickt."
Wieder küssten sie sich lange und innig. Wie verabredet, wandten sich beide mit einem Male um und steuerten auf das Haus zu. Bevor sie es betraten, ergriff Klara noch ihren Schleier, ihre Kopfhülle und die Haube. Sie legte diese Sachen auf den Wohnzimmertisch, während Gottfried die Terrassentür sorgfältig schloss. Dann öffnete er die Tür zu dem einzigen Raum, den Klara noch nicht kannte. Er war klein, wie alles hier im Hause und wurde beherrscht von einem breiten Doppelbett. Bereitwillig ließ sie sich in dieses Zimmer führen.