Leseprobe aus "Wunderbare Kindertage"


Leben und Liebe in der Backstube

Hans hatte ein trauriges Los gehabt. Seine Mutter wollte nichts von ihm wissen, und wer sein Vater war, wusste niemand. Da es auch keinerlei Verwandte gab, steckte man den Jungen zu einer alten Frau, die ihn für ein paar Mark Kostgeld, welches die Gemeinde zahlte, aufzog. Sie war aber nicht in der Lage, ihn so zu betreuen, wie es notwendig gewesen wäre. Deshalb brachte mein Bruder den Buben sehr oft mit zu uns. Er wurde bei uns durchgefüttert und jeden Samstag von meiner Mutter gebadet. Er spielte mit meinen Brüdern und machte mit ihnen die Hausaufgaben.
Als Hans zehn Jahre alt war, starb die Pflegemutter überraschend. Nun stand er völlig allein auf der Welt. Deshalb machte sich der Bürgermeister auf zu meinen Eltern und meinte, da der Bub eh schon so oft bei ihnen sei, sollten sie ihn ganz zu sich nehmen. Mein Vater aber entgegnete: "Das ist was anderes, wenn er nur stundenweise hier ist. Aber die ganze Verantwortung für ihn zu übernehmen, das geht nicht. Wir haben ja selber schon sechs Kinder."
Enttäuscht und ratlos zog der Bürgermeister wieder ab. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Buben so lange bei sich zu behalten, bis sich irgendwo ein Pflegeplatz für ihn auftat. Das erwies sich aber als sehr schwierig. Niemand wollte den Jungen haben, da so gut wie nichts für ihn gezahlt wurde.
Nach einigen Wochen kam mein Bruder Karl ganz verstört nach Hause. "So eine Gemeinheit! So eine Unverschämtheit!", schimpfte er.
"Was ist denn so gemein?", wollte meine Mutter wissen, die immer ein offenes Ohr für uns Kinder hatte.
"Es kommt ein Wanderzirkus ins Dorf."
"Na und?", fragte meine Mutter arglos. "Das ist doch etwas sehr Schönes. Deshalb brauchst du dich doch nicht so aufzuregen. Natürlich dürft ihr hingehen."
"Darum geht es gar nicht", erklärte Karl. "Es geht um den Hans."
"Du willst, dass er auch mit kann? Meinetwegen, dann kriegt er halt die paar Groschen Eintrittsgeld von uns, wenn dir so daran liegt."
"Nein, Mutter, das ist es nicht. Der Bürgermeister will..., der will...", Karl war so aufgebracht, dass er die Ungeheuerlichkeit zunächst nicht über die Lippen brachte.
"Was will denn der Bürgermeister?", forschte meine Mutter weiter. "Der will..., der will den Hans dem Zirkus mitgeben!"
Nun war meine Mutter ebenso empört wie ihr Sohn. "Das ist ja ungeheuerlich!", stieß sie hervor. "Was fällt dem Kerl ein? Nur, um die paar Mark zu sparen, will er das Kind abschieben? Weiß der denn nicht, was er dem Buben damit antut?"