Leseprobe aus "Großmütter erzählen"


Dirndl vom Einödhof

Nach seinem Ableben ist an der Stelle, wo der Eremit seine Behausung gehabt hatte, ein Bauernhof entstanden. Dieser trägt bis auf den heutigen Tag den Namen "Einsiedelhof". Dort also verlebte ich meine Kindheit und Jugend und erlernte all das, was ich für das Leben brauchte. Maßgeblichen Anteil daran hatte meine Großmutter Liesl. Sie war eine sehr strenge, dominierende Frau. Sie hatte auf dem Einsiedelhof das Sagen gehabt. Aber sie war auch tüchtig gewesen, unwahrscheinlich. Ich könnte überhaupt nichts nennen, was sie nicht gekonnt hätte. Sie war hoch intelligent, verstand sich auch in schriftlichen Dingen, sie konnte rechnen, sie konnte wirtschaften. Kaum eine andere Bäuerin konnte ihr das Wasser reichen. Ich vermute, das war der Grund, warum sie einigermaßen unbeliebt im Dorf war. Sie war den anderen ein bisschen zu gescheit.
Meine weitest zurückliegende Erinnerung ist folgende: Mit dem Gesicht zur Wand liegend, schlafe ich in meinem Gitterbett. Ich wache davon auf, dass mich zwei Hände sanft packen und mich so drehen, dass ich mit dem Gesicht zur Tür zu liegen komme. In den schwachen Schein einer Kerze blinzelnd, erblicke ich zwei Gestalten. Eine von ihnen beugt sich zu mir herunter und spricht begütigend auf mich ein. Unwillig darüber, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein und erschreckt durch das fremde Gesicht, werfe ich mich brummelnd zurück in die vorherige Lage. Schritte entfernen sich, der Lichtschimmer verschwindet, die Tür fällt ins Schloss.
Am nächsten Morgen dachte ich, das sei nur ein Traum gewesen und vergaß die Szene bald wieder. Doch nach einigen Wochen wiederholte sie sich. Wieder reagierte ich sehr unwillig und drehte mich zurück zur Wand. Die Sache beunruhigte mich. Dennoch wagte ich es nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Niemand hätte mir zugehört, geschweige denn meinen Worten geglaubt. Schon sehr früh hatte ich nämlich herausgefunden, dass ich hier nichts zu vermelden hatte, dass ich nur geduldet war, dass ich zu schweigen hatte, zu gehorchen und zu arbeiten.
Im Laufe der nächsten Jahre kam es immer wieder zu einer solchen Szene. Jedes Mal reagierte ich recht ekelhaft über die nächtliche Störung. Zu der Zeit kannte ich weder Kalender noch Uhr. Aber ich entwickelte bald ein Gespür dafür, wann es wieder zu solch einer nächtlichen Episode kommen würde. Deshalb nahm ich mir eines Abends ganz fest vor, wach zu bleiben, bis der Spuk beginne. Ich legte mich mit dem Gesicht zur Tür, damit ich die Eintretenden gleich im Visier habe.
Und richtig, wenig später hörte ich das behutsame Niederdrücken der Klinke. Gleich darauf erschien eine weibliche Gestalt. Im Schein ihrer Kerze glaubte ich, meine Tante Resi zu erkennen. Hinter ihr folgte die fremde Person, die ich immer wieder an meinem Bett gesehen hatte. Schnell zwickte ich die Augen zu, damit man glaubte, ich schlafe.
"Heut brauch ich sie gar nicht umzudrehen", flüsterte die fremde Stimme meiner Tante zu. Vorsichtig lugte ich unter den Wimpern heraus, um das Geschehen beobachten zu können. Die Fremde beugte sich zu mir herunter, betrachtete eine Weile mein Gesicht und raunte meiner Tante zu: "Liab schaut's aus, wie's so schläft."
Danach muss ich wirklich bald eingeschlafen sein, denn ich kriegte nicht mehr mit, dass sich die beiden Frauen entfernten.
Der Sache muss ich auf den Grund gehen, dachte ich mir am nächsten Morgen.